Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft - 60 Jahren Migration aus der Türkei
Prof. Dr. Helen Baykara-Krumme
Professur für Migration und Teilhabe
Integration und Teilhabe
Seit dem Beginn des Anwerbeabkommens mit der Türkei und der Arbeitsmigration aus der Türkei nach Deutschland vor 60 Jahren hat sich einiges getan. Korrekter müsste man eigentlich sagen, dass sich seit etwa der 2000er Jahre mehr getan hat als in all den Jahren zuvor: So lange dauerte es, bis Deutschland sich selbst als Einwanderungsland anerkannte, erstmals ein Zuwanderungsgesetz verabschiedete und eine Integrationspolitik entwickelte. Auch die migrantische Community stellte sich zunehmend breiter auf, organisierte sich über Herkunftsgruppen hinweg, formulierte Widerspruch und forderte gleichberechtigte Teilhabe. Der lange dominante defizitorientierte Diskurs zur Integration wandelte sich; mit der Kritik am alten Integrationsbegriff und dem Fokus auf Teilhabe und Partizipation wurden die strukturellen Bedingungen in den Blick genommen, die diese ermöglichen – oder eben auch lange verhindert haben und zum Teil bis heute verhindern.
Der bei seiner Einführung 2005 durchaus fortschrittliche Begriff des Migrationshintergrunds, mit dem die demographische Relevanz von Einwanderung in Deutschland unvermittelt sichtbar wurde (damals wurde erstmals realisiert, dass ein Fünftel der Bevölkerung eine Zuwanderungsgeschichte hat; heute liegt der Anteil bei mehr als einem Viertel), wird inzwischen kritisch diskutiert. Der aus der amtlichen Statistik und Wissenschaft in den Alltagsgebrauch übernommene Begriff des Migrationshintergrunds wird von vielen als ausgrenzend empfunden. Mit neuen Begriffen, so die Hoffnung, werden ausschließende Diskurse beendet. Als Einwanderungsland braucht Deutschland ein inklusives Selbstverständnis, das Zugewanderte, in jedem Fall aber deren Nachkommen bedingungslos in die Wir-Gruppe einschließt.
Denn während sich die gesellschaftliche Wahrnehmung von Migration und das Selbstverständnis als Einwanderungsgesellschaft verändert hat und politische Forderungen nach Repräsentation und Teilhabe gut sichtbar und laut hörbar sind, bleiben Ausgrenzungserfahrungen, Diskriminierung und Rassismus Alltag für viele, die „als Andere gelesen werden“, und das Zusammenleben geschieht oft noch nebeneinander statt miteinander. Die NSU-Morde und die Verbrechen in Hanau zeigen in besonders furchtbarer Weise, welche extremen Konsequenzen Rassismus auch in Deutschland haben kann.
Die Zugewanderten aus der Türkei haben diesen Prozess in Deutschland und in anderen Ländern Europas begleitet, miterlebt - und zunehmend gestalten sie ihn mit. Die Migration begann als „Gastarbeitsmigration“ und hat sich über die Jahre enorm ausdifferenziert. Kennzeichnend ist heute die Vielfalt innerhalb der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland und anderen Ländern Europas. Begleitet war die Einwanderung nach Deutschland und der Verbleib vieler Migrant*innen und ihrer Nachkommen dabei von umfangreichen Rückwanderungsprozessen und dem Entstehen dichter transnationaler sozialer, ökonomischer und politischer Räume.
Heterogenität der größten Migrantengruppe
Deutschland ist für Türkeistämmige mit Abstand das wichtigste Land außerhalb der Türkei: Im Jahr 2020 lebten 1,33 Mio. türkische Staatsbürger*innen in Deutschland, von insgesamt 1,87 Mio. türkischen Staatsangehörigen in der gesamten EU. Bezieht man Eingebürgerte und Menschen, die mit einer deutschen Staatsangehörigkeit in Deutschland geboren wurden, mit ein, so liegt die Zahl der Türkeistämmigen in Deutschland bei 2,75 Mio. Mit knapp 13 Prozent aller Menschen mit Migrationshintergrund und 3,4 Prozent der Gesamtbevölkerung bilden die Türkeistämmigen die mit Abstand größte Herkunftsgruppe. Altersmäßig ist die Gruppe der Türkeistämmigen zugleich vergleichsweise jung, was sich auch auf etwas höhere Geburtenraten zurückführen lässt: Etwa ein Fünftel sind unter 18 Jahre, nur etwa 8 Prozent sind über 65 Jahre alt. Etwa die Hälfte hat eine deutsche Staatsangehörigkeit; insgesamt haben 285.000 Türkeistämmige eine doppelte Staatsangehörigkeit und ca. 890.000 eingebürgerte Türkeistämmige sind wahlberechtigt. Von allen Türkeistämmigen sind 46 Prozent selbst zugewandert (1.28 Mio.), die Mehrheit ist also in Deutschland von türkeistämmigen Eltern als sogenannte Zweite (oder Dritte) Generation geboren. Im Gegensatz zu anderen Herkunftsgruppen zeigt sich hier die besonders lange Migrationsgeschichte und damit eine besondere Zugehörigkeit zu Deutschland: Im Mittel leben Zugewanderte aus der Türkei bereits 32,5 Jahre in Deutschland; 42 Prozent bereits 40 Jahre und mehr. Zugleich sind knapp 7 Prozent aller Türkeistämmigen weniger als 5 Jahre in Deutschland und insgesamt etwa 14 Prozent weniger als 15 Jahre. Migration aus der Türkei nach Deutschland findet bis heute weiterhin statt: Die Einwanderungserfahrungen sind damit höchst unterschiedlich. Die Herkunftsgruppe der Türkeistämmigen ist heute – nach 60 Jahren Einwanderung – durch eine enorme Heterogenität gekennzeichnet. Exemplarisch für die (Super-)Diversifizierung, die insgesamt für die Migrationsbevölkerung in Europa konstatiert wird, ist die Ausdifferenzierung der Herkunftsregionen und die Migrationsmotive über die Zeit von der „Gastarbeitermigration“ bis heute; sie zeigt sich aber auch in der sozialen Schichtzugehörigkeit, in der Unterschiedlichkeit politischer Präferenzen oder in der Bedeutung von Religiösität. Die politischen Präferenzen haben sich über die Jahre diversifiziert – die lange starke Bindung zur SPD hat abgenommen, dagegen hat die CDU an Zustimmung gewonnen. Die Unterstützung für die türkische Regierungspartei AKP variiert innerhalb Deutschlands ebenso wie die Unterstützung für die Oppositionsparteien. Zugleich bezeichnen sich in NRW zwar ein Fünftel der Befragten als sehr religiös und 60 Prozent als eher religiös, aber ein weiteres Fünftel auch als eher nicht oder gar nicht religiös. Die zunehmende Ausdifferenzierung innerhalb der türkeistämmigen Bevölkerung markiert einen Prozess der Normalisierung im Zuge des intergenerationalen Eingliederungsprozesses in Deutschland. Dabei sind gerade politische Einstellungen und Parteipräferenzen von vielen Faktoren abhängig, u.a. auch transnationalen Einflüssen aus dem Herkunftsland (der Eltern und Großeltern). Anschaulich gezeigt wird die Vielfalt innerhalb der migrantischen Bevölkerung in den Studien zu Sinus-Migrantenmilieus. Sie belegen, wie sich soziale Lagen und Wertorientierungen über die Grenzen der Herkunftsgruppe hinweg entfalten; keinesfalls lässt sich vom Herkunftsland auf das Milieu schließen.
Zugehörigkeit und Teilhabe
In der Integrationsforschung werden verschiedene Indikatoren in den Blick genommen, um Entwicklungsverläufe über die Generationen und weiterhin bestehende Benachteiligungen nachzuzeichnen. Im Bereich der Bildungsabschlüsse und des sozialen Aufstiegs gibt es zahlreiche erfolgreiche Beispiele, trotzdem gelten Jugendliche mit türkischer Migrationsgeschichte immer noch häufig als weniger erfolgreich, weil sie öfter ohne Schulabschluss bleiben, häufiger als andere Herkunftsgruppen nur einen Hauptschulabschluss erreichen oder geringere Lernkompetenzen aufweisen. Über die Zeit und im Vergleich zu den Eltern nimmt die Zahl der Bildungsabschlüsse zwar zu und die Bildungssituation hat sich zwischen erster und zweiter Generation verbessert, v.a. bei den Frauen. Aber dieser Bildungsanstieg ist klein und vielfach kann bessere Bildung nicht in Berufserfolge übersetzt werden. Dabei macht Deutschlands Schulsystem soziale Mobilität auch besonders schwer. So zeigen vergleichende Studien, dass Türkeistämmige in anderen europäischen Ländern im Hinblick auf Schulabschlüsse viel erfolgreicher sind: Die Frage ist also weniger, warum es viele Schüler*innen in Deutschland nicht schaffen, erfolgreich zu sein, sondern warum die Institutionen wie unsere Schulen es nicht schaffen, inklusiv zu sein, herkunftsbedingte Nachteile auszugleichen und Chancengerechtigkeit zu garantieren.
Ein anderer Indikator ist die soziale Einbindung und das Zugehörigkeitsgefühl. Hier zeigt sich, dass die Häufigkeit der Kontakte von Türkeistämmigen zu Deutschen ohne Migrationsgeschichte über die Generationen deutlich zugenommen haben. Zugleich wünschen sich laut einer Studie aus dem Jahr 2015 aber viele Befragte mehr Kontakt zu Deutschen ohne Migrationsgeschichte, insbesondere jene, die bisher wenig Kontakt haben. Viele Türkeistämmige fühlen sich stark verbunden mit Deutschland, aber der Anteil ist in der zweiten Generation nochmal deutlich höher. Die Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe und emotionalen Zugehörigkeit hängen eng mit der Akzeptanz und Offenheit der Mehrheitsgesellschaft zusammen. Bei Deutschen ohne Migrationsgeschichte nimmt zwar der Anteil derjenigen zu, der mit Zugewanderten Kontakt haben und Freundschaften schließt. Und Türkeistämmige werden heute weniger als früher als kulturell abweichend wahrgenommen; vielfach gehören sie jetzt dazu, gerade auch angesichts der neuen Zuwanderung von anderen, denn sie sind schon lange da. Viele Städte sind von migrantischer Vielfalt und Pluralismus geprägt; gerade in jüngeren Altersgruppen ist Diversität Normalität. Aber Segregation ist ein Hinderungsfaktor für soziale Kontakte und auch Diskriminierungserfahrungen gehören 60 Jahre nach Beginn der Anwerbung vielfach noch zum Alltag. Es ist erfreulich, dass sich die Mehrheit der Türkeistämmigen subjektiv nicht diskriminiert fühlt; aber dass im Jahr 2015 26 bzw. fast 30 Prozent der befragten Türkeistämmigen angab, sich bei der Arbeits- bzw. der Wohnungssuche benachteiligt zu fühlen, ist erschreckend, zumal Experimentalstudien auch belegen, dass Diskriminierung stattfindet.
60 Jahre nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei und 20 Jahre nach dem Bekenntnis Deutschlands als Einwanderungsland sind wir im Miteinander ein gutes Stück vorangekommen. Aber die Bedingungen für erfolgreiche und umfassende Teilhabe sind noch nicht zufriedenstellend; wir brauchen insbesondere weitere Öffnungsprozesse der Mehrheitsgesellschaft, ihrer Organisationen und Institutionen, um Teilhabe nachhaltig und strukturell zu ermöglichen.